Norbert König

09 Mrz 2023
Bodensee - Landschaften im Scherenschnitt

In dem Artikel "Der Scherenschnitt - eine (fast) vergessene Kunst" wurden neben der Technik des klassischen bzw. historischen Scherenschnittes Möglichkeiten einer Weiterentwicklung sowie Kombinationen mit anderen künstlerischen Techniken beschrieben. Die als Beispiele hinzugefügte Silhouetten - Serie von berühmten Komponisten stand für die Entwicklung eines realitätsnahen und den Charakter erfassenden Porträts im Scherenschnitt. Die thematisch hierzu ergänzende Serie der Bodensee - Landschaften bietet dagegen Beispiele für eine Weiterentwicklung des Scherenschnittes und Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Techniken.

Die 30 - teilige Serie folgt geographisch gewissermaßen einer kleinen Rundreise am nordöstlichen Bodenseeufer zwischen Lindau und Friedrichshafen.

Die Insellage von Lindau im "Schwäbischen Meer" bietet eine Menge von Motiven für eine künstlerische Umsetzung. Erwähnt seien hier neben den phantasievollen Hausfassaden das mittelalterliche Bauensemble von Peterskirche und Diebsturm und die vom massiven alten Leuchtturm, dem neuen "schlanken" Leuchtturm und der Skulptur des Bayerischen Löwen eingerahmte Hafeneinfahrt.

Etwas weiter nördlich, in die sanften Hügel des Allgäus gebettet, liegen die Spielzeug - artig verstreuten Häuser des Dörfchens Unterreitnau.

Nicht minder reizvoll : Wasserburg mit seiner unverwechselbaren Halbinsel - Silhouette und die mittelalterlich geprägte Kleinstadt Wangen mit ihren Turm - gekrönten Stadttoren.

Dem Bodenseeufer nach Westen folgend erreicht man die kleinen, aber feinen Orte wie das Platanen - geschmückte Langenargen oder Tettnang, in dessen Nähe sich ein Schloss "im Taschenformat" befindet.

Der Endpunkt dieser Rundreise ist eine veritable Stadt: Friedrichshafen mit seinem "Halbinsel - Ausleger" in den See, ähnlich wie Wasserburg und dem in neuer Technik (NT) erstandenen Zeppelin.


Beschreibung der Scherenschnitte

1. Insel Lindau von der Ladestraße. Die von zwei benachbarten Kirchtürmen dominierte Insel-Silhouette vom Schilf - bewachsenen Ufer des Ortsteiles Reutin. Das Motiv lebt von dem Kontrast zwischen geradliniger Architektur und den unregelmäßigen Naturformen. Die schmalen vorgeschobenen Sandbänke sind zwecks weiterer Auflockerung gerissen, und nicht geschnitten.

2. Insel Lindau vom Hoyerberg. Das Bild ist sozusagen um die alte Eiche herum "komponiert". Mit seinen drei Ebenen, die durch den Baumstamm zusammengehalten werden, kann es an die äußerst beliebte "dreiteilige Form"( in allen Kunst - Disziplinen) erinnern. Stil und Technik sind hier noch an der historischen Silhouette orientiert.

3. Insel Lindau vom Hoyerberg, Grauschnitt. Der Grauschnitt kombiniert die Verwendung von schwarzem Scherenschnittpapier mit abgestuften Grautönen, die sich besonders für die Anwendung der "Luftperspektive" eignet. Hier dient sie jedoch der Schattierung eines bewegten Wolkenhimmels mit entsprechender Seeoberfläche. Bei genauer Betrachtung geben sich die grauen Flächen als Übermalung zu erkennen, die auf einer SW - Kopie des gleichnamigen Farbschnittes vorgenommen wurde.

4. Insel Lindau vom Hoyerberg, Farbschnitt. Für die Verwendung von farbigen Papieren gibt es (auch) die Bezeichnung "Buntschnitt". Sie ist jedoch eher für folkloristisch dekorative Bildwerke zutreffend, wie sie beispielsweise noch in ihrem Herkunftsland China anzutreffen sind. Die Technik der übereinander geklebten Farbflächen ähnelt dem Farbholzschnitt, der bei der Pariser Weltausstellung von 1900 eine wahre Revolution in der Kunst auslöste und zur Erfindung des Expressionismus führte. Die Exponate stammten aus Japan und China; an ihnen entdeckte man die unmittelbare Wirkung des "Flächigen" als Ausdrucksmittel, welches die Moderne fortan beherrschte.

5. Lindau, Hafeneinfahrt mit Magnolienblüte. Das Bild gliedert sich wie die Insel - Silhouette vom Hoyerberg in die drei Ebenen von Vorder-, Mittel- und Hintergrund. Zu den nahezu selbständigen Bildelementen gesellt sich die Möwe als"frei bewegliches" hinzu. Die blühenden Magnolien können an dekorative Pflanzen - Silhouetten des 19. jh. erinnern.

6. Lindau, Hafeneinfahrt mit Geisterstimmung. Silhouettentransparent. Durch den bildfüllenden Fond werden die einzelnen Bild - Elemente zu einer Einheit verschmolzen, welche sie in die Nähe eines Gemäldes rückt. Der aquarellartig fließende Übergang von Himmel und seiner Spiegelung im See wird durch rückwärtige Beleuchtung der auf Folie gezogenen Silhouette erreicht.

7. Lindau, Hafeneinfahrt aus dem alten Leuchtturm. Der Blick aus dem massiven Natursteinbau des alten Leuchtturmes mit seinen Butzenscheiben fällt auf die Hafeneinfahrt, die von seinem schlanken Nachfolger und einer Skulptur des Bayerischen Löwen flankiert wird. Die ein wenig technisch anmutende Architekturstudie wird durch einen kleinen Ausschnitt aus der Schweizer Alpenkette mit ihren Schneehängen aufgelockert.

8. Lindau, "Seeg'frörne" 1990/91 an der alten Seebrücke. Wie in der Musik, so gibt es auch in der Kunst Motive, die verschiedene Sichtweisen erlauben und dadurch zu mehreren Verarbeitungen einladen. Bei dem vorliegenden "Thema con variazioni" geht es darum, die eislaufende Figurengruppe in unterschiedliche Winter - Stimmungen zu versetzen. In der klassischen SW - Version stellt der weiße Fond die Eisfläche des "kleinen Sees" zwischen Insel und Festland dar. Diese Abb. ist von sog. Adern umrahmt, die sich als Übergang zu einem Passepartout-Ausschnitt oder Rahmen empfehlen. Hier dienen sie allein schon der Begrenzung des Raumes, in dem sich die Figuren bewegen. Bei einer rahmenlosen Graphik ist der Fond beispielsweise durch die Größe einer Postkarte gegeben - und nicht leicht zu bestimmen, denn : eine zu große weiße Fläche kann das Motiv "erschlagen", während es in einer zu knapp bemessenen wie in einen zu engen Käfig gezwängt wirkt.

9. "Seeg'frörne", Grauschnitt. Das als Untergrund verwendete Japanpapier bewirkt eine Stimmung von fahlem Sonnenlicht, auf dem sich die Figuren deutlich abheben. Die luftperspektivisch aus grauem Papier geschnittene Seebrücke kontrastiert auch als Landschaftselement zu den bewegten Figuren, deren Binnenausschnitte weiß unterlegt sind.

10. "Seeg'frörne", Mischtechnik. Unter diesem Begriff ist hier die Kombination von Scherenschnitt und Phototechnik zu verstehen. Die geheimnisvoll wirkende SW - Struktur ist das Ergebnis eines "gelenkten Zufalls" beim Kopieren, auf das wiederum der originale Scherenschnitt kopiert wurde.

11. "Seeg'frörne", Silhouettentransparent. Das Gemälde-artige Bild beruht auf einer Weiterverarbeitung der zuvor gezeigten Version : Auf Folie gebracht, ist es von hinten mit blauem Licht und einer Spotlampe (für die untergehende Sonne) erleuchtet.

12. Lindau, Hauptstraße im Winter. Die Ludwigstraße mit ihren individuellen Hausfront und Dachgiebel - Formen sowie den benachbarten Kirchtürmen als Blickfang. Das Scherenschnittpapier begünstigt die Darstellung einer Winternacht mit dunklem Himmel und ausgeschnittenen weißen Schneeflächen, die einen willkommenen Kontrast zu den geometrischen Architekturformen ergeben.

13. Hauptstraße im Winter, Ausschnitt. Für die Wahl eines Ausschnittes von einem Werk gibt es ähnlich wie in der Musik verschiedene Gründe. Als "pars pro toto" kann er den Blick auf Einzelheiten lenken, die zuvor vielleicht unbeachtet waren. Die Erkenntnis "Weniger" sei "Mehr" unterliegt zwar auch dem persönlichen Geschmack, eröffnet jedoch in jedem Fall eine andere Qualität der Wirkung, die nicht zwangsläufig eine Verminderung bedeutet.

14. Hauptstraße im Winter, Zweifarbenschnitt. Die zusätzliche Verwendung von blauem Papier zur "Illuminierung" des Nachthimmels und Schnees ist eine variierte Verarbeitung des in zweifacher Ausfertigung doppellagig geschnittenen Motivs.

15. Hauptstraße im Winter, Zweifarbenschnitt, Ausschnitt. Für den Ausschnit gilt sinngemäß das gleiche wie in Nr. 13 gesagte.

16. Hauptstraße im Winter, Handkolorierte Scherenschnitt-Kopie. Das Kolorieren von SW - Drucken wurde gerne vor der Erfindung des Farbdrucks als Weiterverarbeitung von Holz - und Stahlstichen vorgenommen. Bezüglich der Farbauswahl erlaubte es - im Gegensatz zu Originalen - ein Experimentieren mit verschiedenen Lösungen und verlieh dem Druck eine persönliche Note mit entsprechender Wertsteigerung. Beim Scherenschnitt kann dieses Verfahren auch als Entwurf für einen geplante Farbschnitt genutzt werden, der sich dann durch (wahrscheinlich willkommene) Farbnuancen von letzterem unterscheiden lässt.

17. Hauptstraße im Winter, Buntschnitt. Bei dieser ersten Beschäftigung mit dem Motiv findet das nach wie vor im Handel erhältliche "Buntpapier" mit seinen leuchtenden Farben eine Anwendung. Das Ergebnis mag an japanische Farbholzschnitte erinnern, die oft auf eine plakativ - prächtige Wirkung abzielen.

18. Diebsturm und Peterskirche im Winter. Der mittelalterliche Gebäudekomplex zählt zu den architektonischen Kostbarkeiten der Inselstadt . Die Schneepolster - bedeckten Tannen und die unregelmäßige Schneefläche des gerissenen Vordergrundes bewirken in diesem Nachtbild eine weihnachtliche Stimmung.

19. Diebsturm und Peterskirche im Winter, Mischtechnik. Ähnlich wie bei dem Motiv der Seeg'frörne sind die weißen Flächen wegen des gelblichen Japanpapiers als Untergrund weiß unterlegt. Die rot und gelb erleuchteten Fenster sind (im Gegensatz zum reinen Farbschnitt) mit transparenten Farben handkoloriert, was somit auch bei weiteren Druck - Vervielfältigungen erfolgen kann.

20. Unterreitnau bei Lindau vom alten Pestfriedhof. In das lieblich gewellte Allgäu gebettet, gehört das Dörfchen dennoch zur Stadt Lindau. Über die Mauer und das schmiedeeiserne Tor des kleinen mittelalterlichen Pestfriedhofes schweift der Blick zu den verstreuten Landhäusern, die sich um den kompakten Kirchturm scharen. Das märchenhaft anmutende Arrangement ist jedoch realitätsnah geschnitten.

21. Wasserburg am Bodensee vom Malerwinkel. Etwas weiter westlich von Lindau, wo das Bodenseeufer eine Landzunge in den See schiebt, liegt das idyllische Wasserburg. Vom Malerwinkel auf dem Festland zeigt sich die Halbinsel - von alten Bäumen eingerahmt - mit ihrer unverwechselbaren Silhouette. Der gerissene Vordergrund - Abschluss unterstreicht den poetischen Charakter des beliebten Mal- und Foto - Motivs.

22. Winterabend bei Wasserburg, Silhouettentransparent. Wie bei dem Motiv der Lindauer Hafeneinfahrt ist der Scherenschnitt - auf eine transparente Folie gebracht - von hinten erleuchtet : mit blauem Licht und dem gelblichen Schein einer Spotlampe.

23. Winternacht über Wangen. Die Kleinstadt Wangen im Allgäu ist mit ihrer bestens erhaltenen Bausubstanz ein mittelalterliches Kleinod "wie aus dem Bilderbuch". Der an einen Holzschnitt gemahnende Scherenschnitt enthält fast alle in dieser Serie bevorzugten Merkmale wie Einbeziehung des nächtlichen Himmels, unregelmäßig geformter Schneeflächen und mit dem Schneiden kombiniertes Reißen des Papiers.

24. Winternacht über Wangen, Mischtechnik. Das Bild ist in der gleichen Technik entstanden wie das Lindauer Bauensemble von Diebsturm und Peterskirche und verbreitet mit seinen erleuchteten Fenstern und Schnee-Dächern eine ähnliche weihnachtliche Stimmung. Der Scherenschnitt ist auf dunkles Japanpapier gedruckt und (einschließlich der weißen Schneeflächen) mit Temperafarben handkoloriert. Diese Technik erlaubt die Ausfertigung beliebig vieler "Halboriginale" wie bei der früheren Weiterverarbeitung von Holz- oder Metallstichen.

25. Schloss Giessen bei Tettnang. Die puppenhaft kleinen Ausmaße lassen das Gebäude ein wenig märchenhaft erscheinen. Es hat mit seinem "Mini - Wehrturm" und entsprechenden Gebäudeteilen zugleich Merkmale einer Burg, liegt aber nicht auf einem Berg oder Hügel, sondern auf freiem Feld zwischen Ravensburg, Lindau und Friedrichshafen. Das Geäst eines alten Baumes und der mit Schneeflecken gerissene Boden nehmen der "Architektur in der Landschaft“ eine mögliche Starrheit. Diese Abb. gibt ein Beispiel für die Rahmung mit Passepartout, dem gerade bei SW - Graphiken eine besondere Funktion zukommt. Eine ideale Wirkung lässt sich mit gedämpften Farben wie grau oder beige (je nach Motiv) in vergoldetem Holzrahmen erzielen.

26. Schloss Giessen, Farbschnitt. Die Technik dieses Winterbildes ist fast identisch mit der "Winternacht über Wangen (Nr. 25). Die Farbflächen sind hier jedoch unterlegt und der ganze Farbschnitt auf dunkles Japanpapier geheftet, wodurch das zuvor scheinbar schwebende "Luftschloss" in einen klar definierten Raum versetzt wird.

27. Friedrichshafen mit Zeppelin. Die Stadt ist vor allem durch den Erfinder des Zeppelins bekannt, welcher mit neuer Technik ausgestattet, sich wieder - oder immer noch - großer Beliebtheit erfreut. So ist ihm auch auf dieser Halbinsel - Silhouette ein Platz neben der Schlosskirche zugewiesen, deren Türme sich im Wasser spiegeln. Die gerissenen Bodensee - Wellen dienen der Auflockerung und Belebung des Bildes.

28. Platanenbeschneidung in Langenargen. Die Naturstudie dürfte im ersten Augenblick ein wenig verwirren, und die beiden Männer auf Leitern sind darin wie auf einem "Suchbild" versteckt. Das Motiv kann symbolisch für die Tatsache gesehen werden, dass der Mensch Teil der Natur ist, auch wenn er sie nach seiner Vorstellung formen möchte und sie zu beherrschen glaubt.

29. Platanenbeschneidung, Mischtechnik. Der Abendhimmel mit Mondscheibe verleiht der komplizierten Silhouette nicht nur eine besondere Atmosphäre, sondern auch eine gewisse Stabilität. Sie ist zusammen mit der Mondscheibe aus bemaltem Transparentpapier auf photographisch manipuliertes Farbpapier geheftet.

30. Möwen am Bodensee. Bei den bisher gezeigten Landschaftsbildern ging es um das Zusammenspiel und die sich ergänzenden Formen von Natur und Architektur. Das letzte Beispiel dieser Serie ist mit der "Möwen - Flugschau" um das Schnee - bedeckte Geäst am Bodenseeufer ganz der Natur gewidmet. Das Verfahren, abzubildende Objekte aus dem (schwarzen) Papier herauszuschneiden, wird Negativschnitt genannt ; auch in der Blütezeit des Scherenschnittes wurde es sehr selten angewendet.

Zu den Scherenschnitten  

 

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